Ziegen

Die Ziege im Rehpelz


 

Vor nahezu 15 Jahren zogen wir in ein einsam gelegenes, verwunschenes Haus mitten im Berliner Grunewald.

Als Herrscher über eine große Fläche Wiese und Garten standen wir nun vor dem Problem einer sinnvollen Bewirtschaftung. So beschlossen wir die Anschaffung von Bio- Rasenmähern. Mutter und Tochter Schaf zogen bei uns ein und pflegten fortan die Rasenflächen.

Freunde, die von unserer Schafhaltung erfuhren, sahen bei uns eine ideale Heimat für ihre weiße deutsche Edelziege Ziege. „Lena“ war bereits 8 Jahre alt, als sie zu uns kam. Sie entschied sich- trotz mehrfacher Bockbesuche- gegen eine Mutterschaft, gab aber trotzdem täglich ½ l Milch, die sich entgegen allen Vorurteilen, geschmacklich nicht von Kuhmilch unterschied.

Lena“ wurde 12 Jahre alt. Ihre zutrauliche, freundliche Art weckte damals unsere Liebe zu Ziegen.

Aus persönlichen Gründen zogen wir 1997 in einen Berliner Stadtrand- Bezirk und unsere Ziegen nach Brandenburg.

Nun sollte unerwartet wieder eine Ziege unseren Weg kreuzen. An einem kalten Donnerstagnachmittag im Februar 2004 wurde mir ein drei Tage altes Ziegenlamm zur Behandlung vorgestellt. Unfähig auf den Hinterbeinen zu stehen, konnte es nicht an der mütterlichen Zitze saugen. Nach Ergänzung des fehlenden Spurenelements Selen, erwachte mein großes Ziegenherz. Ich entschloß mich vorübergehend die Mutterrolle- mit der Flasche in der Hand- zu übernehmen.

Bereits nach vier Tagen hatte sich der Zustand soweit normalisiert, dass das Lämmchen zu seiner Mutter hätte zurückkehren können, jedoch stand diese inzwischen wegen einer massiven Euterentzündung in der Klauentierklinik.

So zog die kleine 2,3 kg schwere Waise in das Kinderzimmer meiner Tochter Sabrina und wurde fürsorglich rund um die Uhr mit Milchaustauscher versorgt.

Meine Tochter war stolz auf ihren neuen Zimmergenossen-  welches Kind kann schon behaupten eine Ziege als Einschlafpartner zu haben.

Tagsüber begleitete mich “Ari” zur Praxis und bewohnte während der Sprechstunden einen großen Käfig. Von hier hatte sie freien Blick auf all die Großstadtgetiere, die normalerweise meine Sprechstunden besuchen.

Das Interesse der zweibeinigen Begleiter meiner Patienten an dem kleinen Erzgebirgsziegen- Lämmchen war beachtlich.

Offensichtlich als Exot in der Großstadt wurde es- nicht nur von Kindern- mit dem Ausruf: „ Schau mal- ein Reh!“ bewundert. Als ob sie sich darüber empörte, beantwortete sie dieses manchmal mit ziegentypischem Gemecker und stellte so den Irrtum selbst klar. Betrachtete sie ihre zweibeinigen Bewunderer jedoch stumm, so hatte ich nicht selten Probleme, das Mißverständnis aufzuklären. Heute hat sie eine imposante Größe von 80 cm Schulterhöhe und einen ausgeprägten Bart. Selbst wenn sie sich einmal in einem Wald verirren sollte, so hoffe ich, wird man sie doch inzwischen als Ziege erkennen. 

Nicht selten stellte man mir die Frage, wie man hier in der Stadt- wenn auch im Randbezirk- an ein solch exotisches Tier herankam. Mit Verwunderung wurde zur Kenntnis genommen, dass es in der Hranitzkystraße in Marienfelde ein „Privates Museum für Tierkunde“ gibt, bei dem leider inzwischen das tierische Gemecker dem menschlichen Gemecker weichen mußte. Einen Teil der Tiere des PMTB betreue ich seit einigen Jahren und von dort stammte auch dieses seltsame rotbraune Wesen. Mit zunehmenden Außentemperaturen durfte Lämmchen „Ari“ im Garten herumspringen, jedoch unter kritischer Beobachtung der anliegenden Nachbarn.

Auf unsere nicht ganz ernst gemeinte Beteuerung: „ Keine Sorge- sie bleibt ja nicht!“ wurde nur mit einem zweideutigem Schmunzeln geantwortet.

Auch heute noch – nachdem ZIEGE „ Ari“ nun über 1 Jahr bei uns lebt - , werde ich gelegentlich nach dem kleinen „Reh“ gefragt.

Dies zeigt mir, wie weit sich der Großstadtmensch bereits von dem natürlichem Leben, wie es John Seymour in seinen Büchern („Leben auf dem Lande“ u.a.) beschreibt, entfernt hat.

Selbst meine eigenen Kinder ziehen es vor, sich vor dem Fernseher mit Soaps einseifen zu lassen, erliegen stundenlang Game Boy oder PC-Spielen und können jeden Werbespot fehlerfrei aufsagen.

Ich habe als waschechte Berliner Pflanze ( ohne Motivation durch meine Eltern) vor Jahrzehnten die Liebe zum ländlichen Leben entdeckt und arbeite daran, diese irgendwann endgültig umzusetzen.

Ich finde es erschreckend, wenn die menschliche Nachzucht nicht weiß, wie die Milch aus dem Euter via Zitze ins Tetrapack gelangt, wie ein Huhn ein Ei legt, was aus Schafhaaren gemacht werden kann, dass nicht alle Kühe lila sind u.s.w..

Verlieren Berliner vielleicht leichter den Bezug zur Natur, da sie sich- jahrzehntelang eingemauert- zu technomorphen Wesen weiterentwickelt haben?

Landluft, Gemecker, Gemuhe und Krähen scheinen für den „naturverbundenen Menschen“ nur gelegentlich im Urlaub erträglich zu sein.

Benzingestank, technikbedingter Krach ( wie z. B. Autolärm, Rasenmäher, Hächsler), Menschengemecker sind offensichtlich gesünder als „Tierlärm“ und „Tiergeruch“ und manchmal stört sogar schon der Anblick von Hunden und Katzen.

Quo vadis Großstadtmensch, und können wir uns diese Arroganz überhaupt noch erlauben?

Eine Ziege- die Kuh des kleinen Mannes- mit einem Reh zu verwechseln, ist dies nicht schon ein deutliches Indiz?

Ich habe jedenfalls nicht verlernt, wie unsere „Lebensmittelerzeuger“ aussehen, mit ihnen umzugehen, mich selbst zu versorgen und gebe dieses Wissen gern weiter.

Können Sie sich vorstellen, beim Anblick eines gelassen wiederkäuenden Tieres nach einem stressigen Arbeitstag, Entspannung zu empfinden, um dann anschließend Ihre pubertierenden Sprößlinge besser ertragen zu können? Balsam für die Seele? Haustiere, wie meine Kaninchen, Hühner und Ziegen( selbstverständlich hat Ari eine Freundin bekommen und lebt in einem ziegengerechten Stall und nicht mehr im Kinderzimmer) ersetzen erwiesenermaßen autogenes Training und manche Therapie.

In Polen gibt es ein Programm, bei dem sozialhilfeabhängigen Familien eine Ziege zur Verfügung gestellt wird. Folge ist nicht nur eine Senkung der Lebenshaltungskosten durch Selbstversorgung, sondern eine allgemeine Motivation der Menschen durch den positiven Einfluß der Tierhaltung.
Ziegen sind hierfür besonders geeignet, da sie wenig Futterkosten verursachen und intensive, freundschaftliche Beziehungen zu „ihren Menschen“ aufbauen. Dies ist vielleicht nicht generell in Deutschland umsetzbar, aber einen Gedanken wert.

Sobald im nächsten Jahr die Milch aus dem Euter unserer Ziegen fließt, werden wir uns wieder aktiv mit Käseherstellung befassen.

Unser eigenes Brot( aus selbstangesetztem Sauerteig und selbstgemahlenem Getreide), sowie der frische Ziegenkäse sind übrigens unvergleichlich gut, da wir die Produkte selbst hergestellt haben, die Zutaten stimmen und keine E´s enthalten sind .

Frau Künast würde sich sicherlich freuen!

Ich möchte mit diesem Artikel nicht behaupten, dass das einzig wahre Leben nur mit einer Ziege oder anderen Nutztieren im Stall erfolgen kann.

Ein wenig mehr Toleranz gegenüber Städtern, die zu den Wurzeln zurückkehren möchten, wäre jedoch erfreulich. Sie können ruhig hinter ihrem Rücken über diese „Sonderlinge“ lachen, das dürfte sie kaum stören.

Nebenbei ist Selbstversorgung ( mit und ohne Fell- oder Federträgern) auch eine gute Möglichkeit, finanzklamme Zeiten besser und gesünder( körperlich und psychisch) zu überstehen.  Versuchen Sie es doch einfach mal.


Lena mit Jungmutter
Berliner Idylle im Sommer 1991 ( Ziege „Lena“, Hund „Bacchus“ und Jungmutter mit Tochter)

Nachtrag: Ein besonderer Dank gilt meinen Nachbarn, die bisher stoisch meine Ziegen ertragen und sich bereits auf die gesunde Milch für das allergiegeplagte Enkelkind freuen.

 

 geschrieben im März 2005

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